Gegen die Marktmeinung

Nie können Anleger günstiger einsteigen als in extremen Baissephasen. Die antizyklische Taktik lockt dann mit besonders hohen Gewinnen. Doch sich gegen die vorherrschende Marktmeinung zu stellen, erfordert viel Durchhaltevermögen und Mut, vor allem wenn der Einstieg zu früh erfolgt.

Kaufen, wenn die Kanonen donnern. Verkaufen, wenn die Violinen spielen», riet der Frankfurter Bankier Carl Mayr von Rothschild bereits im 19. Jahrhundert. Bis heute erfreut sich diese Contrarian-Strategie grosser Beliebtheit. Nicht selten heisst es in Empfehlungen, Anleger sollten «antizyklisch» agieren.

Unter dem Strich meinen alle das gleiche: Verkaufen, wenn die Marktmeinung weitere Höhenflüge erwartet. Kaufen, wenn sie von Kursverlusten ausgeht. «Diese Taktik ermöglicht es, Chancen an den Märkten wahrnehmen», sagt Alfons Cortés, Markttechniker von der Liechtensteiner Unifinanz.

Anleger agieren oft panisch und lassen sich stark von Emotionen beeinflussen. Äussert sich eine Bank negativ zu einem bestimmten Anlagebereich oder ändert die taktische Vermögensallokation von Aktien zu Obligationen, folgen sie – und erfüllen somit ihren Teil der Prophezeiung. Dabei handeln sie oft völlig unabhängig von fundamentalen Faktoren.

Panik und Verlustaversion sorgen dafür, dass oft ganze Sektoren, Länder oder gar Börsen überverkauft sind. «Solche Phasen gab es beispielsweise 2008 oder auch nach dem Brexit. Dann ist antizyklisches Handeln gefragt», erklärt Cortés.

Langer Atem nötig

Gegen die Marktmeinung zu agieren, braucht nicht nur Mut, sondern auch Geschick: Man muss Werte identifizieren und kaufen, die günstig bewertet sind, und so lange halten, bis sich der Aktienkurs erholt hat. Daniel Kahneman, Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor für Psychologie, mahnt zur Reflexion und Bedacht.

Wenn die Analyse stimme und die fundamentalen Daten unverändert seien, sollte der rationale Investor am Tiefpunkt weiter zukaufen. Das mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, es besteht jedoch das Risiko, den Wiedereinstieg zu früh zu wagen und schmerzhafte Verluste einzufahren. «Man muss sich von der dominierenden Meinung abkoppeln und die Schwankungen aushalten», rät der Unifinanz-Experte.

Mit antizyklischem Agieren können zwei Ziele verfolgt werden: Einerseits das Erkennen von gegenspekulativen Gelegenheiten, die auf lange Auf- und Abstiegsphasen folgen. Neben diesem opportunistischen Ansatz könnte die Taktik laut Nicolas Roth, Co-Head Alternative Investments bei der Bank Reyl, auch dazu dienen, ein Bedürfnis zu erfüllen. Beispielsweise ein Engagement in Volatilität, um den Rest des Portfolios auszugleichen.

Werte identifizieren

Doch wie erkennt man den richtigen Zeitpunkt, um zuzugreifen? Gemäss Cortés beginnt das Ende der Baisse, noch bevor sie da ist. Denn wenn alle dasselbe tun, gehen dem Markt irgendwann die Verkäufer aus. So endete der Bärenmarkt ausgelöst durch die Finanzkrise im März 2009. Doch es gab bereits davor einige Sektoren, beispielsweiche Banken, die das Ende anzeigten.

«Es lohnt, genau hinzusehen und nicht einfach nur auf die Indizes zu achten», gibt Cortés zu bedenken. Die grossen Indizes sind alle nach Marktkapitalisierung gewichtet, mehr Aufschluss würden hingegen gleichgewichtete Barometer bringen.

Es gibt aber auch Momente, die sogar völligen Laien auffallen würden. «Spätestens wenn auch die Boulevardpresse von einem Bärenmarkt schreibt, ist der Zeitpunkt für einen Einstieg gekommen», fährt er fort. Besonders wenn der Gesamtmarkt stark gefallen ist, ist es der richtige Zeitpunkt, einzelne Werte auszuwählen.

Wenig Sinn macht jedoch, einfach die schlechtesten Titel zu kaufen, denn auch ein fallendes Messer muss den Boden nicht sofort erreichen, je nach Fallhöhe dauert es länger. Cortés rät zu einer Selektion anhand von Fundamentaldaten oder über Aktien, die wieder relative Stärke aufbauen.

Einfache Selektion mit Erfolg

In der Vergangenheit gab es auch einfachere Weg zum Erfolg, wie eine Studie von SJB FondsSkyline zeigt. Aus einer Investitionssumme von 10 000 wurden in 36 Jahren je nach Strategie zwischen 61 823 Euro und 13,16 Millionen Euro. Der passive Anleger investierte am 1. Januar 1979 in die internationalen Aktienmärkte, genauer gesagt den MSCI World, und liess die Anlage ruhen.

Der prozyklische Investor kaufte den besten nationalen Markt des abgelaufenen Jahres und liess das Geld dort fünf Jahre unangetastet. Der antizyklische Anleger machte genau das Gegenteil und investiert für fünf Jahre in den schlechtesten Markt des abgelaufenen Jahres. Mit der prozyklischen Strategie wurden knapp 62 000 Euro erzielt, mit der passiven rund 328 000 Euro. Mit der antizyklischen Strategie kam der Investor auf sagenhafte 13 Millionen Euro.

Ähnliche Ergebnisse zeigen sich beim Erwerb von in Deutschland zugelassenen Aktienfonds. Das Fazit der SJB-Untersuchung lautet daher: «Selbst wenn der antizyklische Investor bei der Fondsauswahl komplett daneben greift, ist sein Ergebnis immer noch unvergleichlich besser als das des prozyklischen Investors, der blind dem Herdentrieb folgt.»

Für Cortés greift eine solche Auswahl jedoch zu kurz, es gäbe durchaus Märkte und Sektoren, die länger als fünf Jahre Verluste verzeichneten. «Deterministisches funktioniert nicht.» Dies unterstreicht auch Nicolas Roth. Er rät, sich an momentanen Gelegenheiten zu orientieren. Entscheidend ist also nicht, das ganze Portfolio antizyklisch auszurichten, sondern einzelne Positionen für kürzere Zeiträume auf- oder auszubauen, um Chancen wahrzunehmen.

Zudem sei es sinnvoll, über die traditionellen Anlagen hinaus zu schauen. «Aktuell besteht eine fantastische Möglichkeit im notleidenden Kreditmarkt in Italien, wo erwartet wird, dass Banken ihre Engagements abstossen», fährt Roth fort.

Mit einer solchen Taktik haben Investoren die Chance, hohe Erträge zu ernten. Doch dafür gilt es die medialen Hochgesänge oder Negativmeldungen auszublenden und mit Geduld auf den Erfolg zu warten. Dabei aber nicht vergessen: Antizyklisch heisst auch, immer mal wieder zu verkaufen. Dass dies exakt am Wendepunkt geschieht, ist illusorisch.


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