Alles ist Spieltheorie

Spieltheorie ist vielen Anlegern fremd. Doch Christian Rieck zeigt wie man sich die Theorie zu Nutzen machen kann.

Text: Barbara Kalhammer

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Spieltheorie. Was steckt dahinter?

Sie ist eine Entscheidungstheorie. Der grösste Unterschied zur klassischen Entscheidungstheorie ist die Annahme, dass andere Personen mit im Spiel sind, die auch denken können. Bei der alten Theorie wird davon ausgegangen, man sei der einzige, der denkt. Als würde man quasi gegen den Zufall spielen. Nach dem heutigen Verständnis ist das die Glücksspieltheorie. Die Spieltheorie ist eine strategische Theorie.

Wo finden wir Beispiele in der Praxis?

Nach solchen muss nicht lange gesucht werden, die Welt ist voll von spieltheoretischen Beispielen. Das kann beispielsweise ein Schlittenhang sein. Dort überlegt man sich ja, wo man am besten hinaufläuft und wo hinunterfährt. Das hängt nicht nur davon ab, wo besonders schöner Schnee liegt, sondern auch davon, wo die anderen gehen und fahren. Jede Situation, in der man mit dem Verhalten anderer Menschen konfrontiert ist, ist eine spieltheoretische Situation.

Das ist somit auch an der Börse der Fall.

Absolut. Viele Bücher über die Finanzmärkte gehen davon aus, dass der Finanzmarkt so etwas wie ein Casino ist. Die gesamten mathematischen Modelle gehen immer von einer Zufallsverteilung aus. Der einzige Denkende in diesem Szenario ist der Anleger, der gerade das Buch über die Finanzmärkte liest. Das ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn, denn jeder, der das Buch liest, kann denken und ist dann sozusagen die Umwelt für die anderen.

Die Börse ist also Spieltheorie in Reinkultur?

Ja, die Börse ist quasi das prototypische Beispiel für die Spieltheorie. Denn was an ihr passiert, hängt eben nie nur von einem selber ab, sondern auch von allen anderen. Daher sind sämtliche Modelle, mit denen wir versuchen, die Börse zu beschreiben, aber das nicht spieltheoretisch tun, von der Struktur her falsch. Diesen Denkfehler begehen auch die Banken: Ihre Risikomodelle berücksichtigen die Spieltheorie nicht.

Müsste man die Modelle ändern?

Das ist so, denn sie greifen zu kurz. Es wäre nötig, sie nach anderen Prinzipien aufzubauen.

Nach welchen?

Auf einer praktischen Ebene läuft es sehr stark auf Rückkopplungen hinaus. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass man eben nicht der einzige Vernunftbegabte ist. Die anderen sind es auch. Und weil diese gleichzeitig denken, müssen die Denkschritte der anderen antizipiert werden. Erst dann lassen sich sinnvolle Aussagen treffen.

Was hat das für Auswirkungen?

Wir sprechen ja heute von sogenannten Fat Tails. Das heisst, dass Verteilungen, beispielsweise die Renditeverteilung, an den Rändern zu viel Wahrscheinlichkeitsmasse hat. Grosse Kursausschläge sind somit viel wahrscheinlicher, als die Normalverteilung vorhersagen würde. Das ist eine Blackbox-Erklärung für das eben Beschriebene. Dadurch, dass alle übereinander nachdenken, kommt es zu grösseren Abweichungen von der reinen Normalverteilung – und somit zu grösseren Kurssprüngen. Wenn man dies nicht berücksichtigt, werden einen die Kurssprünge immer wieder überraschen.

Kann die Spieltheorie Antworten für aktuelle Probleme wie die Schuldenkrise liefern?

Sicherlich. In meinem Buch «Rettung vor dem Euro» habe ich beschrieben, wie die Struktur der Euro-Konstruktion dazu führt, dass ein bestimmtes Fehlverhalten gezeigt wird. Menschen verhalten sich entsprechend den Spielregeln und versuchen innerhalb dieser Regeln selber zum Vorteil zu gelangen. Bei ungünstigem Regelwerk kann es zu einem Ergebnis kommen, das man eigentlich nicht haben wollte.

Trifft das auch auf die Schuldenkrise zu?

Ja. Ich habe mir als Spieltheoretiker vor der Einführung des Euro den Mund fusselig geredet. Bereits in den 1990er-Jahren habe ich bemerkt, dass die Struktur dahinter jene ist, die dazu führt, dass sich alle überschulden wollen. Und so war es dann ja auch.

Bietet die Theorie auch Lösungsvorschläge?

Durchaus. Es ist relativ klar, an welchen Stellschrauben gedreht werden müsste, damit die Interessen des Einzelnen besser übereinstimmen mit dem Gemeinschaftsinteresse. Die falsche Medizin sind beispielsweise die aktuell diskutierten Euro-Bonds.

Was wäre der geeignete Weg?

Meine Idee ist ein anderer Aufbau von Staatsanleihen. Man sollte diese nicht als ein Becken an Obligationen betrachten, sondern sie als vor- und nachrangige Schulden konstruieren. So würden die ersten Anleihen, die ausfallen könnten, in eine bestimmte Tranche kommen. Durch diesen Aufbau würde man ein graduelles Feedback an die Staaten liefern über die Angst der Investoren. Umgekehrt ist es für die Anleger transparenter, da er um die Lage des Landes weiss.

Was passiert dann bei einem Ausfall?

Man könnte einen graduellen Kreditausfall konstruieren. Im Falle von Griechenland zum Beispiel wäre dann eine Tranche ausgefallen, während die anderen noch sicher sind. Das Prinzip dahinter ist das stufenweise Feedback. Würde ein Staat Bankrott gehen, wäre das eine sehr teure Angelegenheit. Daher versuchen alle, das zu verhindern. Ein Teilbankrott wäre verkraftbar. Das System würde besser funktionieren.

Kann sich jeder der Spieltheorie bedienen?

Es ist umgekehrt: Man kann sie nicht nicht anwenden. Wir handeln immer spieltheoretisch, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Weil wir aber ohne spieltheo-retische Schulung gewisse Feinheiten nicht sehen, machen wir unnötige Fehler. Das passiert schon in so einfachen Fällen wie den Koordinationssituationen.

Wo zeigt sich dies im Alltag?

Beispielsweise in einer vollen Fussgängerzone. Auch ohne Verkehrszeichen entstehen gewisse Gehwege in die eine oder andere Richtung. Das ist eine Koordination. Kann jemand diese nicht lesen, wird er ständig mit anderen Leuten zusammenstossen.

Sind Anleger, die sich den spieltheoretischen Aspekten an der Börse bewusst sind, im Vorteil?

Es gibt viele Leute, die daraus ein mathematisches Modell machen wollen. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Es kann allerdings von Vorteil sein, sich bewusst zu machen, was auf der philosophischen Ebene abläuft. Spieltheoretisches Gedankengut kann helfen, die Zukunft besser vorherzusagen. So würden gewisse Investitionen unterlassen werden, nachdem sie spieltheoretisch durchdacht wurden.

Die Spieltheorie besagt also, dass alle anderen auch denken. Kann sie auch vorhersagen, was sie denken?

Eine Glaskugel gibt es leider nicht. Aber man kann sich überlegen, was für die einzelnen Teilnehmer von Vor- und Nachteil ist und welche Zusammenhänge bestehen. So wird man zu anderen Ergebnissen kommen, als wenn man eine Analyse auf naive Weise durchführt. Die Verinnerlichung des Modells kann bereits Auswirkungen auf das eigene Verhalten haben und einem die Handlungsweisen von anderen verständlicher machen.

Christian Rieck: Der Professor für Finance und Wirtschaftstheorie an der Frankfurter University of Applied Sciences ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Spieltheorie und Finanzen bekannt. 


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