«Auf indirektem Weg in die komplette Verstaatlichung»

Japan ist uns Europäern voraus – auch bezüglich weniger Erfreulichem. Gunther Schnabl über die langfristig desaströsen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Folgen von Nullzinsen, und was man dagegen tun kann.

Gunther Schnabl

Gunther Schnabl*, Sie sind ein deutscher Ökonom, warum beschäftigen Sie sich mit Japan?

Japan ist spannend, weil es Europa vorausläuft. Viele geld- und finanzpolitische Themen, die in Japan schon lange diskutiert werden, kochen in Europa erst jetzt auf. Es zeichnet sich eine ähnliche Geldpolitik wie in Japan ab. Mit Blick auf Japan lassen sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen ausmachen, mit denen Europa in absehbarer Zeit konfrontiert sein wird.

Vor ein paar Jahrzehnten galt Japan als wirtschaftliche Supermacht schlechthin. Auf der ganzen Welt fürchtete man sich vor Innovationen aus Japan.

Dabei war Japan vor dem Zweiten Weltkrieg keine grosse Wirtschaftsmacht. Erst in der Nachkriegszeit etablierten die amerikanischen Besatzer eine unabhängige Zentralbank und ein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem. Zusammen mit dem Arbeitsethos der Japaner führte dies zu einem beeindruckenden wirtschaftlichen Aufholprozess, wie ihn kaum ein anderes Land ausserhalb des Westens erlebt hat.

Wann und warum kam dieser Prozess ins Stocken?

In den frühen 1980er-Jahren sah Japan seinen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber den USA steigen. Das hatte zwei Gründe: Die Japaner hatten ihre Finanzmärkte geöffnet, während die USA ihre Zinsen erhöht hatten. Folglich floss viel Kapital aus Japan in die USA, das die hohen Leistungsbilanzdefizite der USA gegenüber Japan finanzierte. Das 1985 vereinbarte Plaza-Abkommen sah vor, durch eine Aufwertung des Yens das Leistungsbilanzungleichgewicht zu beseitigen. Der japanische Yen wertete gegenüber dem Dollar innerhalb von zwei Jahren um zirka 50 Prozent auf.

Das wird vor allem die für Japan so wichtige Exportwirtschaft unter Druck gebracht haben.

In der Tat. Als umgehende Antwort auf die ausser Kontrolle geratene Aufwertung senkte die japanische Zentralbank die Zinsen stark. Das half den japanischen Unternehmen, sich an die Aufwertung anzupassen. Gleichzeitig entfachte das viele billige Geld eine Spekulationsblase, die Ende 1989 mit dem Einbruch der Aktien- und zwei Jahre später mit dem Verfall der Immobilienpreise platzte.

Dem Platzen der Blase sind also bereits geldpolitische Interventionen vorausgegangen?

Aus marktwirtschaftlicher Sicht ist es falsch, eine Rezession mit zu viel billigem Geld zu bekämpfen. Spannend ist, dass die Wirkung von Zinssenkungen nicht immer gleich ist. So können sinkende Zinsen zu einem Aufschwung und zu Übertreibungen an den Finanzmärkten führen, wie in Japan von 1985 bis 1989. Ist die Blase aber einmal geplatzt, können weitere Zinssenkungen die Wirtschaft lähmen, wie das Beispiel Japans seit 1990 zeigt.

Was ist Ihre Begründung für diese unterschiedlichen Reaktionen?

Wirtschaftsakteure sind lernfähig. Eine Blase wird oft aufgrund übermässigen Kreditwachstums aus dem Bankensektor angefacht. Nach dem Platzen der Blase folgt die Regulierung der Banken, um das Kreditwachstum einzudämmen. Dann fliesst das billige Geld in andere Sektoren wie den Unternehmenssektor oder in andere Länder.

Droht uns im Westen eine Japanisierung?

In Europa aber auch in den USA gilt längst das Mantra, wonach wirtschaftliche Probleme mit kostenlosem Geld zugedeckt werden können. Über Negativ- und Nullzinsen werden Unternehmen und Banken vor dem Kollaps bewahrt, damit keine Bankenkrise einsetzen und es nicht zu Arbeitslosigkeit kommt. Eine bedingungslose Kreditvergabe aber lässt die Produktiv- und Wachstumskräfte einer Wirtschaft erlahmen.

Erleben wir gerade die Verstaatlichung der japanischen Wirtschaft durch die Bank von Japan?

Der Trend geht immer stärker in diese Richtung, direkt oder indirekt. Die Bank von Japan hat schon viele Aktien von Unternehmen gekauft und könnte bald bei vielen Unternehmen der grösste Anteilseigner sein. Über die Nullzinspolitik sehen wir eine indirekte Verstaatlichung. Noch sind Unternehmen und Banken privat, doch viele überleben nur, weil die Bank von Japan ihnen quasi bedingungslos frisches Geld über die Notenpresse zur Verfügung stellt. Im Prinzip haben die sozialistischen Planwirtschaften auch so funktioniert.

Direkte Verstaatlichung funktioniert nicht, das zeigen Beispiele wie die UdSSR eindrücklich. Wie steht es um die indirekte Verstaatlichung?

Die indirekte Verstaatlichung ist besser zu verkaufen, weil sie in kleinen Schritten kommt. Am Ende sind vollendete Tatsachen geschaffen, die als alternativlos dargestellt werden. Im Unterschied zu Europa sind die Menschen in Japan sehr geduldig, obwohl der Wohlstand verfällt. Bislang ist der grosse Aufstand ausgeblieben, während wir in Europa, allen voran Frankreich, die ersten grossen Proteste sehen. In Japan ziehen sich die Menschen eher in ihre Wohnzimmer zurück.

Wie kommt Japan aus dieser Verstaatlichungsspirale wieder raus?

Es mag überraschend klingen, doch Japan muss nicht zwingend einen Ausweg finden, es kann den Weg in die Verstaatlichung immer weiter gehen. Verstaatlichte Volkswirtschaften erzielen zwar kaum Produktivitätsgewinne – Wirtschaft und Gesellschaft dümpeln vor sich hin. Nichtsdestotrotz sind sie stabil ohne grosse Boom- und Krisenphasen.

Das würde dann aber die endgültige Erstarrung Japans bedeuten. Schon heute fällt auf, dass Japan viel von seiner früheren Wachstums- und Innovationskraft eingebüsst hat.

Sehr wichtig für die Innovationsfähigkeit Japans war stets der Wechselkurs. Über Jahrzehnte hatte Japan eine Hartwährung, die gegenüber dem Dollar aufwertete und so die Produkte gegenüber dem Ausland teurer machte. Die japanischen Exportunternehmen waren dadurch unter Druck, immer noch effizienter und innovativer zu werden.

Mit der Niedrigzinspolitik ging dieses Erfolgsrezept verloren?

Ja. Das billige Geld lässt den Yen abwerten. Der Druck, effizient und innovativ zu sein, liess nach, so dass auch die Produktivitätsgewinne stark zurückgegangen sind. Mit den Produktivitätsgewinnen sind die Löhne unter Druck geraten, die seit 1998 fallen.

Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus?

Die unkonventionelle Geldpolitik hat starke Verteilungseffekte. Ersparnisse werden nicht mehr verzinst, was vor allem der japanischen Mittelschicht schadet, die früher viel gespart hat. Hingegen profitieren reiche Japaner, die Aktien und Immobilien in Tokio haben. Weil die Produktivitätsgewinne sehr gering ausfallen, müssen immer mehr Menschen in schlecht bezahlten, wenig abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.

Somit wird es immer schwieriger, den Lebensstandard der vorherigen Generation zu halten.

Das geht nur, wenn heute beide Partner arbeiten. Folglich drängen vermehrt Frauen auf den Arbeitsmarkt. Die haben dann weniger Zeit für die Kindererziehung sodass die Geburtenraten tief bleiben. Zudem verstärkt sich der Trend zur Teilzeitarbeit, die in Japan enorm an Bedeutung gewonnen hat.

Man spricht in Japan von einer verlorenen Generation.

Ich spreche eher von drei verlorenen Dekaden. Aber es stimmt, dass immer mehr junge Menschen in Japan kaum noch eine wirtschaftliche Perspektive haben.

Hikikomori oder Karoshi sind für uns Europäer kuriose Verdichtungen innerhalb der Gesellschaft. Handelt es sich dabei um gesellschaftliche Folgen der Nullzinspolitik?

Hikikomori oder auch parasitäre Singles ist ein Ausdruck für Menschen, die bis in die späten 20er und frühen 30er ihres Lebens noch bei ihren Eltern wohnen, weil sie beispielsweise aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Selbstständigkeit keine eigene Familie gründen können. Während meiner Zeit in Japan ist mir das noch nicht aufgefallen. Anders steht es um den Begriff «Karoshi» – Tod durch Überarbeiten –, das hat es schon in den 1980er-Jahren zu Zeiten der Blase gegeben.

In der Tat sind die Japaner bekannt dafür, ein sehr arbeitstüchtiges Volk zu sein.

Japaner sind sehr gebildet, tüchtig und motiviert. Interessant ist, dass die Japaner mehr arbeiten und doch immer weniger dabei herauskommt. Das deutet auf grosse Effizienzverluste hin. Dass sie nicht aufbegehren und sich zurückziehen, ist ebenfalls eine japanische Eigenheit.

Kann man also gewissermassen vom Glück im Unglück reden, dass die Japaner diese kulturelle Eigenheit mit sich bringen?

Die Europäer haben diese nicht, ist das gefährlich? In Europa ist zu erwarten, dass die Menschen viel früher und energischer gegen die gesellschaftlichen Folgen der Nullzinspolitik aufbegehren werden. Das ist in vielen europäischen Ländern auch schon sichtbar. Die Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialsysteme wären um einiges einschneidender.

Sind Reformen in Japan als auch in Europa ohne apokalyptischen Ausgang möglich?

«Wasch mich, aber mach mich nicht nass», das gibt es nicht. Die Reformen des Geldsystems und der Volkswirtschaften würden jedoch auf einem sehr hohen Wohlstandspolster erfolgen. Deshalb halte ich sie für machbar. Sie würden uns zwar weh tun, doch sie bringen uns nicht um. Und was uns nicht umbringt, macht uns bekanntlich stärker.

Von welchen Reformen sprechen Sie konkret?

Allen voran müsste man wieder einen echten Marktzins zulassen. Der würde höher sein als heute, was einigen Unternehmen das Genick brechen würde. Auf kurze Frist hätten wir sicherlich eine Krise, doch sie wäre bereinigend und würde Wachstum und Produktivität mittelfristig wieder erhöhen.

Also lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

Ja. Ein Schrecken ohne Ende wird es aber nicht geben, weil die Geduld der Menschen, insbesondere in Europa, begrenzt ist.

*Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig


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