Das Bitcoin-Evangelium

Anhänger monotheistischer Religionen sind nicht selten als Religioten verschrien. Dass sich hinter scheinbar profanen Dingen Religiöses verbirgt, ahnen die wenigsten. Denn gerade religiöse Bezüge wirken oftmals zutiefst konstruktiv und sinnstiftend. So auch bei Bitcoin.

Text: Pascal Hügli

In Anlehnung an den Black Friday von 1929 ging auch der 15. September 2008 als schwarzer Tag in die Wirtschaftsgeschichte ein. Mit dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt – Tausende Angestellte hatten ihren Arbeitsplatz vom einen Tag auf den anderen zu räumen. Etliche andere Finanzinstitute mussten, genau wie zahlreiche Versicherungen, von ihren Staaten gerettet werden. Der Interbankenhandel, die Geschäftstätigkeit der Banken untereinander, kam faktisch zum Erliegen.

Die realwirtschaftliche Rezession setzte ein. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers tat die Commerzbank, was eigentlich unmöglich ist: Sie schätzte die Kosten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Resultat: 10,5 Billionen Dollar. Der Schock sass tief, die globale politische Verzweiflung war überall spürbar. Erst recht, als sich auch die als Hoffnungsträger angepriesenen Staaten mit ihren Rettungsaktionen ins finanzielle Elend stürzten. Die Sehnsucht nach einem Messias war gross.

31. Oktober 2008. Etwas mehr als ein Monat nach Krisenhöhepunkt erreicht einige hundert Mitglieder einer obskuren E-Mailliste von Kryptografie-Experten die Nachricht eines gewissen Satoshi Nakamoto. «Seit geraumer Zeit arbeite ich an einem elektronischen Zahlungssystem, das vollständig peer-to-peer ist und keiner vertrauenswürdigen Drittpartei bedarf», schreibt der unbekannte Nakamoto. In seiner E-Mail findet sich ein Link zu einem White Paper, das auf eine zwei Monate zuvor registrierte Webseite hochgeladen wurde. Die neunseitige Schrift beschreibt ein Zahlungssystem namens Bitcoin.

Den adressierten Kryptografie-Freaks und Informatikern war die Idee einer Kryptowährung keinesfalls neu. Schon in den 1990er-Jahren gab es derartige Ansätze, sie waren jedoch allesamt gescheitert. Wenig überraschend also, dass auch Bitcoin erstmal auf wenig Euphorie stiess. Warum sollte ausgerechnet dieses System grundlegend besser sein als die anderen?

Göttlich geplantes Timing

Dessen muss sich Satoshi Nakamoto bewusst gewesen sein – weshalb er mit ein paar spezifischen Spezialmerkmalen aufwartete: Bitcoin, so erklärte der unbekannte Schreiber, basiere auf einer Blockchain, einer über unzählige Rechner gestreuten Datenbank. Diese verhindere, dass Transaktionen doppelt ausgeführt werden könnten. Dem fügte er sein ultimatives Verkaufsargument bei: Die Technologie sei komplett dezentralisiert – ohne zentralen Server oder Autorität, die das System kontrolliere. Stattdessen verfügt sie über Anreize, die dafür sorgen, dass die Blockchain durch deren Nutzer aufrechterhalten würde.

Innerhalb der Szene war so ziemlich jeder mit jedem bekannt, da ein reger Online-Austausch gepflegt wurde. Doch von Satoshi Nakamoto hatte noch nie jemand gehört. Aus dem Nichts tauchte dieser Nakamoto eines Tages auf und kündigte Grosses an. Keiner der angeschriebenen Kryptografie-Begeisterten wusste, wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg. Nakamoto verwendete zwar zumindest drei E-Mail-Adressen, doch die waren derart aufwendig verschlüsselt, dass die Identifizierung der dahinterstehenden Person faktisch unmöglich war. Noch heute ist die wahre Identität Nakamotos nicht zweifelsfrei geklärt.

Sein plötzliches Erscheinen hätte die ominöse Figur angesichts der Finanzkrise 2008 kaum besser timen können. Geld regiert die Welt, doch wer regiert das Geld? Es war eine jener Fragen, die im Zuge der Ereignisse wieder stärker in den Vordergrund trat. Nakamotos Antwort in seinem Whitepaper: Die Zentral- und Geschäftsbanken dieser Welt. Es sind diese zentralisierten Horte der Macht, die über das Leben und teils Überleben der Menschen entscheiden. Am Höhepunkt der Finanzkrise also, der uns unser wehrloses Ausgeliefertsein einmal mehr schonungslos aufzeigte, trat Satoshi Nakamoto mit seinem Heilsplan die virtuelle Bühne: Bitcoin sollte die Welt und ihre Menschen aus den Fängen der Zentralisierung befreien.

Seit Menschengedenken basieren Gesellschaften auf Vertrauen. Um Vertrauen ab einer bestimmten Gesellschaftsgrösse gewährleisten zu können, waren Menschen immer auf eine zentral organisierte Autorität angewiesen. Mit der bedauernswerten Konsequenz, dass es stets die für unabhängig gehaltene Zentraleinheit war, welche das Vertrauen nicht selten ausnützte.

Was zu Anfangszeiten des Bitcoin wohl keinem der involvierten Programmierer so richtig bewusst war, sollte diesen ein paar Jahre später selbstverständlich erscheinen. Für Bitcoin-Anhänger ist Bitcoin nicht bloss ein alternatives Zahlungssystem, sondern gewissermassen die Errettung aus jahrhundertealter Tyrannei zentralisierter Macht. So wie das Christentum den Menschen von Natur aus als Sklaven der Sünde sieht, erkennen Anhänger von Bitcoin im Menschen einen Sklaven zentralistischer Machtstrukturen. Für die einen liegt die Erlösung in der Gnade Gottes, für die anderen in der Dezentralisierung.

Mysteriöser Schöpfungsakt

Nicht nur den Zeitpunkt hat Satoshi Nakamoto bestens gewählt, auch die Inszenierung erscheint perfekt zu sein. Dass niemand weiss, wer hinter dem Decknamen steckt, macht die Sache mysteriös und wenig fassbar. Das verleiht Bitcoin seinen eigenen Schöpfungsmythos. Diese Geheimniskrämerei hätte wohl kaum so gut funktioniert, wenn sie nicht Bitcoins Schlüsselanliegen – Anonymität und Dezentralität – widerspiegeln würde. Dass selbst der Gründer unbekannt ist und keine zentrale Machtposition innehat, unterstreicht die Integrität und das Wertversprechen der virtuellen Währung.

Nur wenige haben je mit Satoshi Nakamoto via Internet «persönlich» kommuniziert, so wie auch nur wenige Propheten direkten Draht zu ihrem Gott hatten. Am 12. Dezember 2010 richtete Satoshi Nakamoto seine letzte Nachricht an die Community, mit der er seit Anbeginn in Kontakt stand. Er ging ohne eine Abschiedsnachricht, ohne eine letzte glorreiche Abschlussrede. Nakamoto hörte einfach auf zu schreiben.

Sein Rückzug galt jedoch nur der breiten Community, eine kleine Gruppe von Kernprogrammieren scharte Nakamoto weiterhin um sich. Ähnlich wie Jesus seine von ihm auserlesenen Jünger lehrte, informierte Nakamoto seine Core Developer über die weiteren Entwicklungsschritte des Bitcoin. Im April 2011 schickte er jedoch auch seinen Jüngern eine letzte Nachricht. Genauso geheimnisvoll wie Nakamoto auf der Bühne erschien, verschwand er drei Jahre später wieder.

Für Bitcoin-Anhänger ist Satoshi Nakamoto nicht nur das einsiedlerische Computergenie hinter Bitcoin, sondern die Personifizierung einer höheren Macht, die sich aus ihrer aktiven Rolle zurückgezogen hat und noch als gottähnliche Gestalt in unseren Köpfen weiterlebt. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde», steht in der Genesis. Und Nakamoto schuf am Anfang den ersten Block an Bitcoins, den Genesis-Block. Die Parallelen zur Schöpfungsgeschichte der Bibel sind nicht zu übersehen.

«Machet die Welt zu Jüngern»

Mittlerweile die Bitcoin-Community stark angewachsen, bezüglich Symbolik steht sie religiösen Glaubensgemeinschaften in nichts nach. Die Christen haben ihr Kreuz, die Moslems den Halbmond, die Bitcoin-Jünger den Token. Selbst Musik wird zu Ehren des Bitcoin komponiert. Es sind – wenig überraschend – lobpreisende Lieder. Der offizielle Bitcoin-Song «Ode to Satoshi» etwa beschreibt, wie Bitcoin dereinst die Welt regieren wird. «10 000 Bitcoins» von Laura Saggers wiederum ist angelehnt an «Oder es werden Musiktitel christlichen Anbetungsliedern nachempfunden: 10 000 Bitcoins heisst das Stück von Laura Saggers und erinnert dabei stark an 10 000 Reasons (Bless the Lord)» von Matt Redman.

Selbstverständlich darf auch ein auf Bitcoin und dessen Begründer abgeändertes «Vaterunser» nicht fehlen. Darin heisst es beispielsweise: «Und führe uns nicht in Altcoins (andere Kryptowährungen), sondern erlöse uns von Ripple (eine Blockchain für das etablierte Bankensystem). Diese religiös anmutenden Lieder und Gebete zeigen, dass Bitcoin eben nicht bloss Zahlungsmittel ist, sondern auch eine Religion. Niemand schreibt Lieder und Gebete über Visa oder Master Card.

Dass es so weit kommen konnte, ist der Arbeit der Core Developer zu verdanken. Diese Handvoll Programmierer war es, die andere Programmierer sowie Unternehmer und Investoren bekehrte, die wiederum selber die frohe Botschaft verbreiteten. Religiöse Konnotationen sind auch hier klar sichtbar: Innerhalb der Gemeinschaft spricht man oft von Bitcoin-Evangelisten, die Ungläubige bekehren sollen. Gewonnen werden diese neuen Jünger an zahlreichen Bitcoin-Meetups, die, wie sollte es anders sein, nicht selten an Orten abgehalten werden, die Satoshi Square getauft wurden. Schilderungen zufolge hätte manch interessierter Neubesucher ein erleuchtendes Glaubenserlebnis, nachdem die Wahrheit von Bitcoin gepredigt wurde.

Die enge Pforte und der schmale Weg

Bitcoin hat vor allem jene in seinen Bann gezogen, die den Moment der Erlösung sehnlichst erwartet haben. Auch in den Jahren vor der Geburt Christi hofften die unterdrückten Juden auf eine Befreiung von den römischen Besatzungsmächten. Mit der Geburt Jesu glaubten viele an die Wende. Umso grösser war die Enttäuschung, als der Messias mit den bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht aufräumte.

Ähnlich Ernüchterndes könnte auch der Bitcoin-Community bevorstehen, denn inzwischen haben sich Zentral- und Geschäftsbanken sowie andere Grossunternehmen im grossen Stil auf die Blockchain eingeschossen. Es scheint realistisch, dass sich die hinter Bitcoin stehende Technologie in vielen Bereichen durchsetzt – vermutlich aber durch die grossen Player in die von ihnen gewünschten Bahnen gelenkt wird. Dass die Blockchain aber sämtliche zentralistischen Institutionen obsolet werden lässt, scheint zumindest in nächster Zeit ausgeschlossen.

Selbst innerhalb der Bitcoin-Community gibt es Zankereien, die an die religiösen Aufspaltungen des Christentums erinnern. Bitcoin XT, Bitcoin Classic und Bitcoin Unlimited sind nur die bedeutendsten dieser Forks, wie die alternativen Programme in der Fachsprache genannt werden. Sie leiten sich alle von Bitcoin Core ab, der Originalversion von Bitcoin. Wenn auch alle dasselbe Bitcoin-Protokoll zum Fundament haben, weichen sie in der Ansicht über das eigentliche Wesen und die Programmierung voneinander ab. Natürlich behauptet jeder, die eine richtige Interpretation von Nakamotos Worte zu haben, die er in seinem Whitepaper, für viele eine Art Bibel, dargelegt hat.

Wird Bitcoin je Mainstream werden? Es ist nicht davon auszugehen. Zu stark ist der Gegenwind jener anderen Religion, deren Gott die zentralistisch organisierte Papiergeldwährung ist. Das kann man als Misserfolg sehen – aber vielleicht muss es ja genauso sein. Denn gerade aufgrund der zahlreichen religiösen Wesenszüge, die einen schöpferischen Idealismus nähren, hat Bitcoin das Zeug, auch ausserhalb des Systems für seine Gläubigen Sinn und Alternative zu sein.


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