«Der Schweizer Franken ist ein Drahtseilakt»

Die Negativzinsen kosten die Schweiz einiges und bedrohen gar deren Währung, argumentiert der Ökonom Keith Weiner. Gewissermassen als Beobachter von aussen wagt er einen Blick auf ein heikles Thema.

Text: Pascal Hügli

In Ihren Artikeln schreiben Sie, der Schweizer Franken werde scheitern. Warum?

Für all jene, die grosse Barguthaben besitzen, gibt es seit bald vier Jahren den perversen Anreiz, diese abzustossen, zu umgehen: der negative Zinssatz von 0,75 Basispunkten. Dieser ist eine enorme Kostenbelastung für Banken, Pensionskassen, Kantone und dergleichen.

Der negative Zinssatz betrifft nur das Einlagekonto bei der Nationalbank. Fast nur Banken können dort ein Depot haben.

Nach meinem Verständnis sind grosse Einlagen bei Geschäftsbanken auch von den 0,75 Basispunkten Nega-tivzinssatz betroffen, so dass Bankkunden wie Pensionsfonds und andere auch in Mitleidenschaft gezogen werden. Am Ende des Tages hängt im Finanz- und Wirtschaftsuniversum heute alles miteinander zusammen. Der Negativzins frisst sich durch die gesamte Wirtschaft durch.

Sie haben es selbst gesagt: Diesen Negativzins gibt es in der Schweiz seit vier Jahren und dennoch scheint der Schweizer Franken gesund und munter zu sein.

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass der Wert von Währungen von Spekulanten bestimmt wird. Kurzfristig ja, in der langen Frist allerdings wird er durch Arbitrage bestimmt, ein Prozess, der Preisunterschiede zwischen den Märkten verschwinden lässt. Ich gehe davon aus, dass Arbitrage-Mechanismen dem Schweizer Franken dereinst den Garaus machen werden.

Der Zusammenbruch steht also nicht unmittelbar vor der Tür?

Es würde mich nicht verwundern, wenn es heute passieren würde, so wie es mich nicht überrascht, wenn es erst in zehn Jahren passiert. Märkte sind unendlich komplex; man kann sie niemals ganz durchschauen. Alles, worauf ich verweise, sind die verschiedenen negativen Kräfte, die am Schweizer Franken nagen.

Zum Beispiel? Nehmen wir beispielsweise zwei grosse Unternehmen, die aus verschiedenen Gründen liquide Mittel, also Bargeld oder Staatsanleihen, halten müssen. Unternehmen A ist verpflichtet, Unternehmen B zehn Millionen Franken zu zahlen. Da diese zehn Millionen Franken an liquidem Kassenbestand Negativzinsen unterliegen, könnten beide Unternehmen den Anreiz haben, ihre finanziellen Transaktionen in Dollar abzuwickeln. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn Unternehmen B ohnehin Dollar-Ausgaben hat.

Schweizer Franken würden durch den Dollar ersetzt, was die Nachfrage nach ersterem verringern würde.

Ja. Es geht hier immer um Arbitrage- und Zinsfragen. Eine US-Staatsanleihe wirft heute rund drei Prozent ab, während eine Schweizer Anleihe Geld kostet. Wenn diese Zinsdifferenz für immer mehr Menschen relevant wird, wird dieser Arbitrage-Mechanismus zu ei-ner Kraft, mit der man rechnen muss. Eine Kraft, die gegen den Schweizer Franken wirkt.

Ihnen geht es also darum, Prozesse und Kräfte zu identifizieren, die gegen den Schweizer Franken gerichtet sind. Den Zeitpunkt des Zusammenbruchs können Sie nicht vorhersagen, richtig?

Ja. Die sinkenden Margen auf den Märkten lassen mich erwarten, dass Marktteilnehmer immer preis- und kostensensitiver wer-den, weshalb sie sich immer häufiger für US-Staatspapiere anstelle von Schweizer Eidgenossen entscheiden dürften. Hierbei handelt sich um eine von vielen möglichen Kräften, doch ist es eine unerbittliche Kraft, die in eine für den Schweizer Franken un-vorteilhafte Richtung zieht.

Gleichzeitig gibt es aber auch relevante Gegenkräfte, die den Schweizer Franken stärken.

Klar. Viele dieser Kräfte hängen jedoch von dem Glauben an den Schweizer Franken und seinem Ruf ab, über die letzten Jahrzehnte die wohl härteste und damit beste Währung gewesen zu sein.

Es ist eine wohlverdiente Reputation, die immer noch viele inländische wie ausländische Investoren zu überzeugen vermag.

Bis zur Jahrtausendwende war der Schweizer Franken mit einer gesetzlichen Verpflichtung ausgestattet, dass mindestens 40 Prozent durch Goldreserven gedeckt sein müssen. Die Schweiz gilt da-her als das letzte Land, das sich vom Gold löste. In den letzten Jahren hat die Schweizerische Nationalbank jedoch fast schon systematisch Schritte zur Schwächung ihrer eigenen Währung unternommen.

Trotzdem war der Schweizer Franken in den letzten Jahren sehr stark.

Das mag stimmen, glauben die Anleger doch nach wie vor an den Schweizer Franken. Bei einer so komplexen Sache wie monetärer Ökonomie dauert es sehr lange, bis die Menschen ihr Verständnis der Realität ändern. Aber irgendwann werden sie erkennen, dass die Fundamentaldaten mit ihrer Vorstellung nicht mehr übereinstimmen und der Schweizer Franken seinen guten Ruf nicht mehr verdient.

Noch haben Sie mich nicht überzeugt, schliesslich scheinen Europa und andere Teile der Welt viel weniger stabil zu sein als die Schweiz, wirtschaftlich wie politisch.

Auch damit haben Sie recht. Wir wissen aber nicht, welche Absurditäten die perversen negativen Zinssätze in der Schweiz in Zukunft verursachen werden. Vielleicht müssen die Zinsen sogar noch weiter sinken, damit sich das Blatt zuungunsten der Schweiz wendet. Doch es wird einen Zeitpunkt geben, an dem der marginale Sparer fliehen und der marginale Investor fernbleiben wird. Die Situation erinnert mich an das Sprichwort des grossen Erasmus von Rotterdam: «Im Land der Blinden ist der Einäugige König.» Ich möchte hinzufügen: Wenn der einäugige König sich aber als allzu sehend erachtet, kann er auch auf dem anderen Auge noch erblinden.

Ist die Schweiz somit dabei, Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden?

Sie ist kein Opfer ihres eigenen Erfolgs, sondern ein Opfer des globalen Währungssystems. Als Richard Nixon den Goldstandard auf-kündete und die Welt einem System flexibler Wechselkurse preisgab, glaubte man, dieses neue System würde die gleichen An-reize wie das Goldstandard-System bieten. Das stellte sich allerdings als falsch heraus. Heute sehen wir: Obschon die Schweiz erfolgreich ist, muss sie all diesen perversen Anreizen Folge leisten. Der Erfolg dürfte diese sogar noch verstärken. Ursache ist aber nicht der Erfolg, sondern das untilgbare Papiergeldsystem von heute.

Auch dürfte die Kapitalflucht in die Schweiz ein Grund sein, weshalb man hierzulande die verheerenden Folgen der Negativzinsen kaum spürt.

Auf diese Weise kann die Schweiz ihre Weste sicherlich noch eine Weile reinhalten. Doch sie hat heute schon mehr Flecken, als man in der Schweiz ahnt.

Schweizer Kantonen und Städten gelingt es zurzeit ganz gut, im Ausland billig Geld aufzunehmen. Private Investoren aus dem Ausland bezahlen sogar dafür, ihnen Geld leihen zu dürfen.

Sehen Sie, so pervers ist unser System heute. Für Wirtschaftsakteure ist es mittlerweile rentabel, Kapital zu vernichten. Doch der Prozess der Kapitalvernichtung wird irgend-wann enden müssen. Auch wenn ich sonst nicht viel von Margaret Thatcher halte, hat sie es einmal treffend gesagt: Irgendwann wird einem das Geld an-derer Leute ausgehen. Solange die Schweiz noch auf frische Kapitalzuflüsse aus dem Ausland zählen kann, lässt es sich gut vom Saatgut anderer Leute leben.

Immerhin gibt es Anzeichen, dass sich die Welt von den Negativ- und Niedrig-zinsen abwenden will.

Ich glaube nicht im Geringsten daran, dass die Zinsen in den wichtigsten Märkten deutlich steigen wer-den. Weder die USA noch Europa haben die Kraft, Zinssätze von rund vier Prozent oder höher zu schultern.

Weshalb?

Wenn Sie Beweise dafür sehen wollen, dass wir uns in einem Umfeld sinkender Zinsen befinden, das sich nicht mehr umkehren lässt, müssen Sie sich fragen: Was sind die Merkmale eines sinkenden Zinsumfelds? Eines der Hauptmerkmale ist, dass es eine sehr schwache Nachfrage nach Krediten gibt, ausser der Zinssatz sinkt.

Können Sie hierzu noch etwas ausführen?

Ich weiss nicht, wie es hier in der Schweiz aussieht, aber in den USA bietet jeder Autohersteller eine Null-Prozent-Finanzierung für 72 oder 84 Monate. Bei einer Zinserhöhung würden die Kosten für die Unternehmen drastisch steigen. Der Grund, warum sie also an dieser Quersubventionierung festhalten: Wenn sie aufgrund steigender Zinsen eine Finanzierung zu vier Prozent anbieten müssten, würde die Nachfrage nach Autos sofort und deutlich sinken. Die Autokonzerne würden durch einen solchen Nachfrageausfall mehr Geld verlieren als durch die Quersubventionierung von Autokrediten.

Welche weiteren Hinweise sehen Sie, warum die US-Notenbank und damit andere Zentralbanken die Zinsen nicht erhöhen können?

Eine Menge. Ich gebe Ihnen noch ein weiteres Beispiel: Nach Untersuchungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) haben jahrzehntelang sinkende Zinsen zu einem starken Anstieg bei den Zombie-Unternehmen geführt.

Was ist ein Zombie-Unternehmen?

Unternehmen, deren Einnahmen die Zinsen ihrer Kredite nicht decken, was bedeutet, dass das Unternehmen seine Schulden nicht bedienen kann, ausser durch Neukredite. Nach Schätzungen der BIZ stieg der Anteil von Zombie-Firmen in 14 entwickelten Volkswirtschaften im Durchschnitt von rund 2 Prozent Ende der 1980er-Jahre auf rund 12 Prozent im Jahr 2016. Diese Zahlen stammen aus der Zeit vor den Zinserhöhungen. Heute dürfte ein noch viel grösserer Anteil Zombies geschaffen worden sein.

Der Aufstieg von Zombie-Unternehmen hat nachhaltige Zinserhöhungen unmöglich gemacht?

Steigende Zinsen könnten eine ganze Reihe von Schuldnern zusammen mit ihren Gläubigern vernichten. Das fallende Zinsumfeld der letzten Jahrzehnte hat es nicht nur möglich gemacht, mehr Schulden zu machen – es hat das Schuldenmachen notwendig gemacht, um im Wettbewerb überhaupt noch genügend Rendite zu erzielen.

Provozieren die Zentralbanken bei steigenden Zinsen also eine neue Krise?

Unser System muss Schulden erzeugen, denn in unserem heutigen Währungssystem gibt es keinen Schuldentilger. Schulden können nicht getilgt werden, sie können nur verschoben werden. Daher wird die Gesamtverschuldung im System immer grösser. Um den Ausbruch einer Krise zu verhindern, muss unser System mit so viel Dollar gefüttert werden, wie der marginale Schuldner zur Bedienung seiner Schulden benötigt. Der marginale Schuldner ist das Zünglein an der Waage.

 

Keith Weiner ist ein US-amerikanischer Ökonom und CEO von Monetary Metals. Über den Schweizer Franken hat er mehrere Schriften publiziert.


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