«Die Schuldenkrise ist nicht vorbei»

Ökonom Daniel Stelter erklärt warum die Euro-Schuldenkrise uns noch lange beschäftigen wird und welche Wege es aus der Endlosspirale aus billigem Geld und tiefen Zinsen gibt.

Text: Barbara Kalhammer

Herr Stelter, viele haben den Eindruck, die Schuldenkrise in Europa sei überstanden. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Die Auffassung, dass die Krise zu Ende ist, ist vor allem in jenen Ländern verbreitet, die die Krise nicht spüren. Dazu zählen Deutschland, Österreich und die Schweiz. Aber wenn man den Blick nach Frankreich, Spanien oder Griechenland wirft, dann zeigt sich sehr deutlich, dass die Krise nicht vorbei ist, sondern akut. Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, die Wirtschaft stagniert seit vielen Jahren, die Wirtschaftsleistung befindet sich sogar unter jener von 2008.

Ist die Verschuldung das grösste Problem?

Genau. Dabei muss man aber festhalten, dass Verschuldung nicht nur ein Problem von Staaten, sondern in weiten Teilen Europas auch ein Problem des Privatsektors ist. Dazu zählt beispielsweise der Bausektor in Spanien, aber auch die privaten Haushalte in Irland. Es gibt in diesen Ländern -also nicht ein reines Staatsschuldenproblem, sondern ein Gesamtschuldenproblem.

Wie kam es zu dieser hohen Verschuldung?

Es gibt nicht eine einzige Ursache, sondern verschiedene Faktoren. Der erste Punkt war die Einführung des Euros. Dadurch sind in den heutigen Krisenländern die Zinsen schnell gefallen, doch die Inflationsraten waren höher. Faktisch war der Realzins negativ. Man erhielt Geld quasi umsonst.

Das trieb aber den Wirtschaftsboom an.

Absolut, mit dem geliehenen Geld wurde kräftig konsumiert und investiert, vor allem in Immobilien. In der Folge stiegen die Preise, was zu weiteren Immobilienkäufen auf Kredit führte. Die Bauwirtschaft, besser gesagt die gesamte Wirtschaft, boomte. Doch die zu tiefen Zinsen führten zu einem jahrelangen Verschuldungsexzess.

Welche weiteren Ursachen gibt es?

Der zweite Punkt ist in der Politik zu suchen, die diese Entwicklungen unterstützte. Denn durch die tiefen Zinsen sind die Staaten in den Genuss einer Entlastung bei den Schulden gekommen, der Spardruck war also geringer. Zudem freuten sich die Länder über den Boom. 2006 wurde Deutschland sogar aufgefordert, sich Spanien als Vorbild zu nehmen. Dabei war der dortige Bausektor bereits so gross wie jener von England, Deutschland und Frankreich zusammen.

Haben die Sparmassnahmen der letzten Jahre gefruchtet?

Nein. Wir reden nur davon, sparen zu müssen; in der Realität ist dies aber nicht gelungen. Die Gesamtverschuldung aller Staaten liegt sogar über dem Niveau von 2008. In Irland beispielsweise ist sie 84 Prozentpunkte höher. Die Krise wurde durch zu billiges Geld und zu viele Schulden verursacht. Nun versuchen wir, sie durch noch billigeres Geld und noch mehr Schulden zu bekämpfen.

Die Politik hat das Schuldenmachen forciert, um einen Kollaps zu verhindern. War das richtig?

Ja, bis 2010 schon. In der akuten Krise den Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, war das richtige Vorgehen. Der Schaden wäre sonst gigantisch gewesen. Doch aktuell drückt sich die Politik davor, die Wahrheit zu sagen: dass viele Schulden nicht bedient werden können. Ich beziffere den Überhang an Schulden in der Eurozone auf rund fünf Billionen Euro. Die Politik verlässt sich darauf, dass die Notenbanken das Problem lösen werden. Immer tiefere Zinsen und Liquidität für das Bankensystem sollen die Krise lösen.

Damit wurden die Probleme nicht gelöst.

Exakt, die fundamentalen Probleme stehen weiter im Raum. Die Schulden wachsen immer noch schneller als die Einkommen. Zudem wird das Geld nicht für produktive Zwecke verwendet, sondern für Spekulation. Es droht eine Vermögenspreisblase.

Die Massnahmen waren zu Beginn richtig, sagen Sie. Was ist dann passiert?

Die Politik hat übertrieben. Zum grossen Problem für die EZB wird nun  die Aussage, die Mario Draghi vor zwei Jahren machte: «Die EZB ist bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten.» Damit ist die Notenbank zu einer Rettungsinstanz geworden. Die Kapitalmärkte gehen von einer impliziten Garantie der EZB für die Schulden der Krisenländer aus. Nur so lässt sich erklären, dass diese Länder so tiefe Zinsen haben wie seit Jahrhunderten nicht. Spanien sogar weniger als die USA. Fundamental ist dies nicht zu erklären, angesichts von Rekordschulden, schrumpfender Wirtschaft und schlechter Demografie.

Wie sieht das im Detail aus?

Ich bezeichne es als Schuldentilgungsfonds mit Hintertür. Denn letztlich wird die EZB zu Quantitative Easing übergehen und Anleihen kaufen. Die Folge ist eine Bilanzverlängerung mit Vermögenswerten von mehr oder weniger guter Qualität, für die aber alle Staaten nach Kapitalanteilen haften. Das hätte zur Folge, dass eine riesige Umverteilung in Europa stattfindet, ohne jegliche demokratische Legitimation. Dass dadurch aber für Staaten erhebliche Lasten entstehen, darf nicht verschwiegen werden.

Was hätte Ihrer Ansicht in den letzten Jahren anders gemacht werden sollen?

Man hätte sich eingestehen müssen, dass die Notenbanken das Problem der Überschuldung nicht lösen können. Stattdessen hätte es zu einer Restrukturierung der Schulden kommen müssen. Einige Staaten werden ihren Verbindlichkeiten nicht nachkommen können. Eine Sanierung würde ähnlich ablaufen wie bei Unternehmen: Alle müssen verzichten, die  Geldgeber und die Mitarbeiter der Firmen. Bei den Staaten wären es die Gläubiger und die Bevölkerung, die Einschnitte hinnehmen müssen.

Die Frage ist also: Wer zahlt den Schaden?

Richtig. Ein möglicher Weg ist die Belastung von Kontoinhabern mit einem Vermögen von über 100 000 Euro, so wie es in Zypern gemacht wurde. Eine andere Möglichkeit wären Vermögensabgaben. Der beste Weg wäre meines Erachtens, den Schuldenüberhang in einen Schuldentilgungsfonds einzubringen, der von Regierungen und Parlamenten genehmigt wird. Dieser würde dann gemeinsam über 20 Jahre abgetragen.

Wie würde das aussehen?

Es braucht zwischen den Ländern eine -gewisse Solidarität. Griechenland, Irland, Spanien und Portugal werden niemals in der Lage sein, ihre Verbindlichkeiten alleine in den Griff zu bekommen. Diesen Ländern würde durch Staaten wie Frankreich oder Deutschland geholfen. Durch einen Schuldentilgungsfonds wären die Kosten im Rahmen, für Deutschland beliefen sie sich beispielsweise auf jährlich 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Warum wurde dieser Schritt nicht schon längst gemacht?

Das Problem ist, dass dies politischen Willen, eine Einigung über die Landesgrenzen hinweg und Politiker voraussetzt, die ihren Wählern endlich die Wahrheit sagen.

Bislang befinden wir uns aber in einer Endlosspirale aus billigerem Geld und tiefen Zinsen. Wohin wird das führen?

Das geht nicht ewig gut. Die Aktionen der Notenbanken werden immer aggressiver werden. Das kann dann schliesslich dazu führen, dass das Vertrauen in Geld schwindet, wodurch wir das Szenario Hyper-inflation bekämen. Alternativ dazu könnte auch einem Land endgültig der Geduldsfaden reissen und es würde seinen Schuldendienst einstellen. In der Folge würde es zu einer ungeordneten Schuldenrestrukturierung kommen – mit Nebenwirkungen wie Bankenpleiten und Unternehmenskonkursen.

Daniel Stelter ist Ökonom und ehemaliger Berater der Boston Consulting Group
sentifi.com

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