«Im Zentrum steht die Bewertung von Unternehmen»

Wie tickt ein Value-Investor? Warum legt ein solcher derart starken Fokus auf Bewertungen? Und weshalb sind Value-Investoren neuen Technologien gegenüber eher vorsichtig? Das und mehr verrät Value-Investor Thomas Braun.

Text: Pascal Hügli

Value Investor Thomas Braun

Value-Investoren setzen bei ihren Anlagen auf «Werte». Tun das an der Börse nicht alle?

Tatsächlich sind auch andere Anlagemethoden wertorientiert, sogenannte Growth-Investoren argumentieren ebenfalls fundamental. Nicht wertorientiert sind dagegen Chartisten, die in ihrer Anlagestrategie bloss Preisbewegungen der Vergangenheit folgen. Sie kümmern sich nicht um Werte und machen daher auch keine Bewertungen. Trendfolger zum Beispiel versuchen mit Computermodellen Trends zu eruieren, um davon zu profitieren.

Was unterscheidet den Value-Investor vom Growth-Investor?

Ein Growth-Investor glaubt, dass eine Firma in eine Bewertung hineinwächst. Solange das Firmenwachstum stimmt, ist er deshalb bereit, einen höheren Preis für die Aktie zu bezahlen. Ein Value-Investor hingegen setzt weniger auf hohes Wachstum in der Zukunft, sondern sucht eine starke Unterbewertung, ohne von heroischen Zukunftsannahmen auszugehen. Er versucht, einen Franken für 60 Rappen zu kaufen. Dabei macht er konservative, auf Vergangenheitswerte abgestützte Annahmen.

Der Hauptfokus eines Value-Investors liegt also auf Bewertungen?

Ja, die Unternehmensbewertungen stehen im Zentrum des Value Investings. Im Prinzip geht ein Value-Investor vor wie ein guter Kaufmann: Er kauft eine Firma nicht bloss, weil deren Kurs in den vergangenen Monaten gestiegen ist. Stattdessen bewertet er das Unternehmen mittels erprobter Bewertungsmethoden und kauft dann, wenn der Preis stimmt. Denn er weiss: Der Gewinn liegt im Einkauf.

Welche konkreten Bewertungsmodelle werden angewendet?

Am meisten genutzt sind die Multiple-Methode, das Discounted-Cashflow-Modell und der Ansatz des sogenannten «Relative Value», der vor allem von Brokern angewendet wird. Erstere sind absolute und keine relativen Methoden, weshalb wir sie für die besseren Vorgehensweisen halten.

Was bedeutet «absolut» in diesem Fall?

Für einen Value-Investor ist folgende Frage relevant: Wie viel Cash kann ich als Eigentümer eines Unternehmens über einen Zyklus aus einem Unternehmen nehmen, nachdem alle sinnvollen Investitionen getätigt wurden? Mit anderen Worten: Wie gross ist der freie Cashflow?

Warum ist der freie Cashflow so wichtig?

Als Value-Investor betrachtet man den freien Cashflow inklusive Veränderung des Netto-Umlaufvermögens. Je stärker eine Firma wächst, desto mehr Netto-Umlaufvermögen muss man mitfinanzieren. Die freien Cashflows werden dann mit der vom Investor geforderten Rendite abdiskontiert. Im Prinzip lässt sich mit einer einfachen Faustregel eruieren, ob sich eine Investition lohnt.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben?

Angenommen, der freie Cashflow beträgt 150 Millionen und die Firma wächst mit durchschnittlich drei Prozent pro Jahr. Als Entschädigung für das Risiko, welches ich bei einem Investment eingehe, möchte ich zehn Prozent Rendite. Aufgrund der Faustregel dividiere ich 150 Millionen durch 0,07 (Rendite von 10% minus Wachstum von 3%, die Red.) und erhalte ungefähr 2,1 Milliarden. Steht die Firma gerade für 1,3 Milliarden zum Verkauf, lohnt sich die Investition und verzeichnet erst noch eine Sicherheitsmarge von 800 Millionen.

Weshalb ist die Sicherheitsmarge so wichtig?

Sie stellt für den Value-Investor eine Art Puffer dar. Aktien pendeln stets um ihren fairen Wert. Manchmal schlägt der Preis gegen unten aus, manchmal gegen oben. Im ersten Fall muss man als Value-Investor kaufen, im zweiten Fall verkaufen. Natürlich kann sich auch ein Value-Investor im Zeitpunkt oder bei der Bewertung des fairen Werts irren. Doch wenn die «Margin of Safety» genügend hoch ist, muss er auch dann nicht zwingend Verlust machen – und dieser ist umso tiefer, je höher die Sicherheitsmarge beim Kauf war.

Value Investing setzt voraus, dass Aktien von ihrem fairen Wert abweichen. Macht der Markt in der Bewertung von Wertpapieren also Fehler?

Ja, vorübergehend immer wieder. Wenn die Märkte alles richtig machen würden, gäbe es keine Value-Investoren und auch keine «Margin of Safety».

Die Effizienzmarkthypothese von Wirtschaftsnobelpreisträger Eugene Fama ist demnach falsch?

Die Wirklichkeit sowie die Schlüsse eines anderen Wirtschaftsnobelpreisträgers legen es zumindest nahe. So konnte Robert Shiller zeigen, dass die Kurse beziehungsweise die Marktkapitalisierung des S&P 500 in der Vergangenheit immer wieder stark vom aggregierten fairen Wert der S&P 500-Unternehmen abgewichen ist. Seine Untersuchungen zeigen, dass es eine Diskrepanz zwischen Preis und fairem Wert geben muss. Der Markt kann also nicht vollständig effizient sein.

Also stimmt die Effizienzmarkthypothese tatsächlich nicht.

Jein. Märkte sind insofern effizient, als sie neue Informationen schnell und bezüglich Richtung richtig einpreisen. Sie sind aber oft nicht effizient, wenn es um die korrekte Bewertung von einzelnen Titeln geht. Grund sind die von den einzelnen Marktteilnehmern verursachten Übertreibungen.

Also ist nicht der Markt das Problem, sondern die in ihm agierenden Menschen?

Die Ökonomie ist manchmal mehr Zauber als Wissenschaft. Erfahrene Börsianer wissen seit jeher, dass Anleger zwischen Gier und Angst schwanken. Wir Menschen handeln oft irrational. Wir sind emotionale Wesen und wir haben uns nicht so gut im Griff, wie rationale Ökonomen das meinen. Fallen die Kurse ins Bodenlose, will der Mensch verkaufen, was ihm noch bleibt – auch wenn es erfahrungsgemäss der schlechtest mögliche Zeitpunkt ist.

Können Unterbewertungen nach einem Crash besonders gut eruiert werden?

Ein Crash schmerzt bei jenen Positionen, die man schon hat. Doch er eignet sich bestens, um neue kostengünstige Investitionen zu tätigen oder bestehende aufzustocken. Wenn Anleger panisch werden, verkaufen sie zu jedem Preis. Teils müssen sie sogar. Fonds zum Beispiel haben Rückgabepflichten, weshalb sie Anlagen viel zu günstig verkaufen müssen. Man spricht von sogenannten «Distressed Sellers».

Wie schwierig ist es, Unterbewertungen in einem normalen, nicht krisengeschüttelten Marktumfeld zu ermitteln?

Es ist eine Herausforderung – aber eine, die viele Value Investoren noch immer meistern. Tendenziell dürfte man bei kleinen bis mittelgrossen Unternehmen grössere Abweichungen zum fairen Wert finden, weil Analysten ihnen grundsätzlich weniger Beachtung schenken. Das schafft natürlich Opportunitäten. Grosse, defensive Titel kann man in der Regel tatsächlich nur im Zuge eines Crashs stark unterbewertet kaufen.

Meistern aktive Manager diese Herausforderung immer schlechter? Immerhin haben sie in den vergangenen Jahren gegenüber passiven Vermögensverwaltern stark an Boden verloren.

Das stimmt. Aktive Manager – und dazu gehören Value-Investoren – haben keine einfachen Jahre hinter sich. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass man die zahlreichen Studien zur vermeintlichen Underperformance der aktiven Manager mit Vorsicht geniessen sollte, da deren Resultate immer von den gewählten Statistiken und Zahlen abhängen.

Fakt ist doch: Kaum ein aktiver Manager vermag seinen Benchmark, nach Kosten, zu schlagen.

Mir bekannte Zahlen aus Langfristuntersuchungen zeigen, dass aktive Manager mehr oder weniger die Marktperformance generieren, minus die Gebühren – und die sind tatsächlich höher als bei  passiven Investoren. Für eine mögliche Underperformance der aktiven Vermögensverwalter sehe ich allerdings schon einen Grund.

Und der wäre?

Institutionelle Anleger wie Pensionskassen oder grosse Fondsgesellschaften handeln oft prozyklisch. Sie müssen dort investiert sein, wo die Musik spielt. Aus diesem institutionellen Zwang heraus kaufen und halten sie teure Aktien in ihren Portfolios, weil sie sonst Kunden vergraulen und Gefahr laufen, diese zu verlieren. Am Ende riskiert der Portfoliomanager bei längerem «Nichtdabeisein» sogar seinen Job. Wenn es zu einer Korrektur der Überbewertung kommt, führt dies mittelfristig zu einer Underperformance.

Die Performance der BWM-Fonds ist gut. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Unser Erfolgsgeheimnis ist, dass wir konsequent auf fundamental stark unterbewertete Aktien setzen und dann geduldig warten, bis der Markt die Unterbewertung korrigiert hat. Da wir uns selbst gehören und daher unabhängig sind, unterliegen wir auch nicht dem oben erwähnten institutionellen Zwang.

In sämtlichen Wirtschaftsabschwüngen der vergangenen Jahrzehnte war bei Value-Titeln eine signifikante Unterrendite zu beobachten. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Wir Value-Investoren kaufen oft Unternehmen, die aktuell Probleme haben, die wir aber mittelfristig für lösbar halten. In einer Rezessionsphase kommen solche Titel dann aber oft besonders unter Druck, da die Anleger stark risikoavers werden und Unternehmen mit Problemen abstossen. Das erklärt die Unterrendite von Value-Titeln.

Die Preisvolatilität eines Titels könne man nicht mit dessen Risikoniveau gleichsetzen, meinte Benjamin Graham. Was meint der Vater des Value Investing damit?

In Krisenzeiten kann die Volatilität von Aktien extrem hoch sein. Je tiefer der Kurs sinkt, desto stärker ist die Unterbewertung und desto geringer logischerweise das zukünftige Verlustrisiko. Das Umgekehrte ist der Fall, wenn die Volatilität in einer Hausse sehr tief ist, weil alle optimistisch sind. Das Risiko ist dann aber besonders hoch, weil der Preis von Aktien über dem fairen Wert liegt.

Wie definiert ein Value-Investor das Risiko?

Risiko ist das Ausmass, um das der Aktienkurs eines Unternehmens über seinem fairen Wert notiert. Je grösser die Abweichung, desto grösser das Risiko. Daraus ergibt sich, dass die Grösse der Unsicherheit bei der Bestimmung des fairen Werts das Risiko darstellt. Auch hier gilt: Je grösser diese Unsicherheit, desto grösser das Risiko. Genau deshalb ist die Sicherheitsmarge für uns Value-Investoren derart wichtig.

Sind die Märkte heute aufgrund einer verzerrenden Zentralbankpolitik nicht eher von Überbewertungen geplagt?

Die Politik der Zentralbanken hat sicher zu Verzerrungen geführt. Da Anleihen keinen Zins mehr bezahlen, flüchten Investoren heute vor allem in defensive Dividendentitel. Die Kurse der Nestlés dieser Welt haben daher massiv zugelegt, sie sind heute sicher nicht mehr unterbewertet. Für mich ist es rational nachvollziehbar, weshalb die Aktien heute dort stehen, wo sie stehen.

Gibt es in Zeiten der Alles-Blase überhaupt noch interessante Möglichkeiten für Value-Investoren?

Wenn die Märkte auf breiter Basis gestiegen sind, wird es tatsächlich schwieriger, unterbewertete Aktien zu finden. Der Markt ist jedoch riesig, Opportunitäten lassen sich immer finden.

Sind Kryptoanlagen eine dieser unterbewerteten Opportunitäten?

Das mag stimmen. Für Value-Investoren sind sie jedoch nicht interessant, da es für Kryptoanlagen keine erprobten Bewertungsmodelle gibt. Und was ein Value-Investor nicht bewerten kann, kauft er auch nicht. Er ist schliesslich ein Investor und kein Zocker.

Ist das der Grund, dass sich Value-Investoren bei neuen Technologien oft raushalten?

In der Tat. Oftmals ist kein freier Cashflow vorhanden, was eine Bewertung schwierig macht. Und oft ist nur schwer einzuschätzen, welche Technologien morgen erfolgreich sein werden und welche nicht. Dadurch wird es sehr schwierig bis unmöglich, den fairen Wert dieser Unternehmen einigermassen zuverlässig zu bestimmen. Wir halten es in solchen Fällen mit Warren Buffett, der sagte: «I don’t swing».

Wo orten Sie die grössten Widersprüche oder gar Fehler in der aktiven Vermögensverwaltung? Closet-Indexer, No Skin-in-the-Game, fehlende Glaubwürdigkeit, zu hohe Kosten?

Pseudoaktive Closet-Indexer haben aus Sicht der Kunden keine Existenzberechtigung. Da sind Indexfonds respektive ETF aufgrund der tieferen Kosten klar die bessere Wahl. Die grosse Herausforderung der aktiven Anlagen ist, dass sie langfristig nach Kosten die Indexfonds – natürlich ebenfalls nach Kosten – schlagen müssen.

Und daran glauben Sie?

Sehr wohl, das Value-Investing bietet nach wie vor realistische Chancen. Mit dem systematischen Kauf fundamental stark unterbewerteter Aktien sollte langfristig eine Outperformance möglich sein, wie dies schon in den letzten 90 Jahren der Fall war.

*Thomas Braun ist Teilhaber, Portfoliomanager und Finanzanalyst bei BWM.


Weiterführende Links zum Thema

Die Geschichte des passiven Aufstiegs

Die Aussagekraft von kurzfristigen Aktienprognosen ist gering


sentifi.com

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