«Noch ist kein Bärenmarkt in Sicht»

Man sollte die Marktsituation nicht schlechter reden, als sie ist, meint Adriano B. Lucatelli. Mit ihren Eingriffen hätten Zentralbanken die Marktkräfte zwar ausgehebelt, dass wir deswegen bald eine Krise erleben würden, glaubt er nicht.

Text: Pascal Hügli & Rino Borini

Noch im Januar erzielten die Aktienmärkte neue Allzeithochs, im Februar kam es zu starken Kurseinbrüchen. Steuern wir auf einen Bärenmarkt zu?

Ich denke nicht. Die Erwartungen steigender Zinsen sowie die stärker als angenommen wachsenden Stundenlöhne im US-Arbeitsmarkt haben zwar die Ängste nach Inflation erneut befeuert und zu den Kurseinbrüchen geführt. Eine Trendwende hin zu einem Bärenmarkt sehe ich allerdings nicht. Da bräuchte es schon Kurseinbrüche von bis zu 15 Prozent. Letztlich handelt es sich vielmehr um eine überfällige Preiskorrektur, nach der viele Finanzexperten – so jedenfalls der Eindruck – förmlich gelechzt hatten.

Könnten die 15 Prozent noch kommen?

Ja. Dann, wenn der Kreditmarkt volatiler und unberechenbarer wird.

Dass wir uns in der Alles-Blase befinden, lässt sich aber kaum bestreiten.

Bei den Aktienmärkten würde ich nicht von einer irrationalen Überbewertung sprechen. Natürlich befinden sich die Kurse auf einem Höchststand, die Flut hat alle Boote angehoben. Doch letztlich sind Märkte immer relativ zu bewerten.

Wie meinen Sie das?

Viel eher sehe ich eine Blasenentwicklung bei den Anleihen. Deren Preisentwicklung war für die Investoren über die vergangenen 35 Jahre tatsächlich eine Erfolgsgeschichte. Man konnte zu jedem Zeitpunkt kaufen und ist damit gut gefahren, teils sogar besser als mit Aktien. Das ist nicht natürlich und muss irgendwann in einer Korrektur enden.

Die Kardinalsfrage ist: Wann kommt diese Korrektur bei den Anleihen?

Die Bond-Hausse neigt sich ihrem Ende zu, der Umbruch ist bereits angelaufen. Noch haben sich die Anleger nicht ganz von den Anleihen abgewendet. Wie rasch diese Umkehrung vonstattengehen wird, ist schwierig zu beantworten. Wie bei einem Gummiband gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist es derart gespannt, dass es ruckartig zurückspringt, oder es ist ausgeleiert und bewegt sich nur langsam in seine Ursprungsposition zurück.

Sind Obligationen vor diesem Hintergrund noch eine sinnvolle Investition?

Nein, in dieser Phase würde ich Cash und Aktien den Anleihen vorziehen. Selbst höher rentierende Papiere von Schwellenländern bringen wenig, da die Währungsverluste oft stark zu Buche schlagen.

Ist es da nicht problematisch, dass viele institutionelle Anleger wie Pensionskassen stark in Anleihen investiert sind?

Eigentlich schon. Aber schlimmer ist es, wenn Pensionskassen aufgrund der schlechten Anleiherenditen in alternative Anlagen investieren, um die Rendite zu steigern. Zum Teil sind solche Alternativanlagen sehr illiquide, und das birgt grosse Gefahren.

Sind die institutionellen Akteure nicht praktisch gezwungen, solche Investments zu tätigen?

Ich glaube, dass man bereits mit einer effizienteren Anlagestrategie bei den Aktien einiges an Erträgen rausholen kann. Anstelle eines simplen marktgewichteten ETF entscheidet man sich für Smart-Beta-Strategien. Der norwegische Staatsfonds setzt schon länger auf solche Strategien und das mit Erfolg.

Sollen Anleger zurzeit eher mit angezogener Handbremse unterwegs sein und mehr Cash halten?

Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich die Cash-Bestände noch nicht aufstocken. Zwischentiefs wie jene von Anfang Februar gilt es durchzustehen. Die Anleger müssen wieder lernen, dass die Finanzmärkte auch mal fünf bis zehn Prozent einbrechen können. Historisch gesehen ist das ganz normal.

Der Anleger von heute scheint das anders zu sehen. Die Volatilitätserwartungen erreichten 2017 einen Tiefstand. Warum?

Sie sprechen vom VIX, dem amerikanischen Angstbarometer. Je niedriger dieses ist, desto sorgloser die Marktteilnehmer. Der Grund für dessen Tiefstand findet sich in der Tatsache, dass die Zentralbanken in den letzten Jahren die Volatilität systematisch unterdrückt und so die Marktkräfte ausgehebelt haben. Sie haben die Märkte über Jahre hinweg manipuliert. Wenn die Zentralbanken ihre Marktinterventionen zurückschrauben und den Markt wieder spielen lassen, wird die Volatilität und mit ihr die Volatilitätserwartungen wieder anziehen.

Signalisiert ein niedriger VIX die berühmte Ruhe vor dem Sturm?

Eine weitverbreitete Sorglosigkeit der Marktteilnehmer ist insofern gefährlich, als dass sie sich vielleicht zu stark an das Diktat der Zentralbanken gewöhnt haben, die zurzeit die Märkte steuern. Ändern die Rahmenbedingungen, indem die Marktdynamik wieder vermehrt spielen darf, kann dies so manchen Marktteilnehmer aus seinem Dornröschenschlaf reissen. Dass uns der grosse Sturm jedoch unmittelbar bevorsteht, glaube ich – wie bereits gesagt – nicht.

Ein geordneter Anstieg der Volatilität wäre also zu begrüssen?

Ja, denn das würde bedeuten: Marktkräfte spielen wieder eine grössere Rolle. Die Möglichkeit zur Differenzierung innerhalb der Finanzmärkte würde wieder zunehmen. Insbesondere aktive Manager aber auch Smart-Beta-Strategien dürften davon profitieren.

Sie glauben also, dass die Zinsnormalisierung gelingen wird?

Glauben ist der falsche Begriff. Ich halte es für möglich. Und zwar weil in unserem heutigen System der «Forward Guidance» die Marktakteure durch die Zentralbank über die jeweils nächsten Schritte in der Geldpolitik vorab aufgeklärt werden und sich die Marktteilnehmer so auf Veränderungen einstellen können.

Was, wenn die Zentralbanken ins Hintertreffen geraten?

Unser derzeitiger Bullenmarkt wird solange weitergehen, wenn die Zentralbanken die Märkte anführen und Unerwartetes antizipieren. Werden die Marktteilnehmer durch eine unterwartete Überraschung auf dem falschen Fuss erwischt, kann die Marktsituation schnell drehen. Oft sind es Einzelereignisse, die gewisse Probleme akzentuieren und daher zu einer Neuinterpretierung der Märkte führen.

Welche Art von Einzelereignis könnte diesmal das Fass zum Überlaufen bringen?

Generell halte ich die Überschuldung für den grössten Gefahrenherd: Staaten, die keine neuen Gläubiger mehr finden, oder Unternehmen, die ihre Schulden nicht mehr begleichen können. Konkret erachte ich es für möglich, dass die Schuldensituation in China ein Auslöser für eine neue Krise sein könnte.

Wie prekär ist die Schuldensituation in China und von welchen Akteuren geht sie aus?

Die Situation ist ungemütlich. Sowohl die absolute Höhe als auch die Geschwindigkeit des Schuldenmachens bereiten mir Sorgen. Und da denke ich nicht nur an die öffentliche Verschuldung, sondern auch an die hohen Schuldenstände von Bürgern und Unternehmen. Diese Situation macht das chinesische Finanzsystem sehr anfällig für einen Schock.

Wie schützen sich Anleger im Falle eines erneuten Finanz-Crashes?

Wenn man seine eigene Risikoneigung und -fähigkeit ehrlich einschätzt und die entsprechende Vermögensaufteilung umsetzt, sollte man nicht wegen Korrekturängsten davon abweichen. Das bedeutet aber, dass man den jeweiligen Anlagehorizont auch respektieren sollte. Wenn man Angst vor einem Crash hat, sollte man gar nicht erst in die Aktienmärkte investieren.

Und der Bitcoin, bietet der Schutz?

Mit den Aktieneinbrüchen in den ersten Februartagen dieses Jahres hätte ich einen Anstieg des Bitcoins erwartet. Doch dieser ist mit den Märkten gefallen. Offensichtlich sehen die Marktteilnehmer im Bitcoin keine echte Sicherheit. Auch als Inflationsschutz haben die Marktteilnehmer den Bitcoin nicht wirklich aufgesucht, obschon die Inflationserwartungen intakt waren.

Die Frage ist, ob diese Korrektur Impetus genug war. Vielleicht ist der Bitcoin einfach auch noch zu jung?

Ja, vielleicht ist er das. Immerhin kennt die breite Masse den Bitcoin erst seit knapp zwei Jahren. Gut möglich, dass die Marktteilnehmer selber immer noch auf der Suche sind. Nichtsdestotrotz, Fakt ist: Zurzeit sind Bitcoin und andere Kryptowährungen für die Mehrheit der Anleger kein Goldersatz.

Was ist Krypto aus Anlegersicht?

Krypto kann alles sein. Dahinter steckt eine Technologie, die Blockchain und ihre unzähligen Anwendungsmöglichkeiten. Über einen Token, eine digitale Wertmarke, lassen sich Rohstoffe, Währungen, Immobilen aber auch immaterielle Güter abbilden. Doch sollte ein einzelner Token eben nur etwas sein und nicht mehrere Dinge gleichzeitig.

Weshalb?

Nur so ist eine Bewertung möglich. Heute tun sich Experten derart schwer mit der Bewertung eines Bitcoins oder anderer Kryptowährungen, weil niemand genau weiss, was diese Dinger eigentlich sind.

Können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Ein Rohstoff wird anders bewertet als eine Währung. Als Währung halte ich den Bitcoin Preis für gerechtfertigt, da Währungen immer im relativen Verhältnis zu anderen Währungen stehen, wobei Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen. Als Rohstoff sehe ich den Wert von Bitcoin bei null, weil er dem Prinzip nach zwar dem Gold nachempfunden ist, im Gegensatz zu diesem aber nicht für eine reale Tätigkeit verwendet werden kann.

Viele sehen im Bitcoin sehr wohl einen Vermögenswert.

Richtig. Aber auch hier sehe ich den Wert von Bitcoin bei null, da er keinen intrinsischen Wert hat. Die traditionellen Bewertungsmethoden wie den diskontierten Cashflow kann man hier ebenfalls nicht anwenden.

Die Schweiz will punkto Krypto eine Vorreiterrolle übernehmen, Stichwort «Crypto Nation Switzerland». Finden Sie das gut?

Ja, doch bislang kommen da vielfach nur hippe Voten von sich selbst inszenierenden Krypto-Rockstars. Was wir brauchen, ist keine Bauernfängerei, sondern echte BlockchainLösungen, die ein reales Problem beheben und so Mehrwert generieren. Dass die Blockchain funktioniert, hat Bitcoin bewiesen. Jetzt gilt es, einen Schritt weiterzugehen.

Welche realen Anwendungsmöglichkeiten haben Sie vor Augen?

In der Luftfahrt zum Beispiel. Das ganze Flugticketgeschäft könnte über eine Blockchain gehandhabt werden.

An solchen Lösungen wird doch bereits gearbeitet. Winding Tree zum Beispiel, eine auf der Blockchain basierende Reisevertriebs-Plattform, hat sich hierfür mit führenden Fluggesellschaften zusammengetan.

Hier haben Sie ein echtes Beispiel. Zu oft geht es aber bei diesen Blockchain-Projekten nur darum, über den Weg eines oftmals dubiosen ICO (Initial Coin Offering) an das schnelle Geld zu kommen. Mit der Mitte Februar veröffentlichten Wegleitung zum Thema ICO ist die Finanzmarktaufsicht FINMA einen ersten richtigen Schritt gegangen. Denn erst ein Standardschema für ICO bringt Klarheit darüber, was erlaubt ist und was nicht.

Sind die heute existierenden Gesetze nicht schon ausreichend?

Es heisst zwar immer, Gesetze seien technologieneutral. Doch was das genau zu bedeuten hat, weiss niemand. Es braucht glasklare Bekundungen vonseiten der FINMA, an denen sich Unternehmer orientieren können: Von wem darf ich als Unternehmen kein Geld entgegennehmen? Wer macht die Compliance? Wie wird das Geo-Blocking eingestellt, damit kein fremdes Recht verletzt wird?

Kann der Schweizer Finanzplatz eine führende Rolle in diesem Thema übernehmen?

Sicher. Es braucht aber einen End-to-End Prozess, der den zulässigen Rahmen definiert. Jetzt sollten wir der ganzen Welt zeigen, wie es wirklich gemacht wird. Nur so kann der Schweizer Finanzplatz eine relevante internationale Vorreiterrolle übernehmen, was eigentlich zu wünschen wäre.

Ist nicht auch das Problem, dass sich die führenden Banken gegen Krypto stellen?

Ja, in der Schweizer Bankenlandschaft herrscht wenig Übereinstimmung bei diesem Thema. Gewisse Banken versuchen aus dem Hype Kapital zu schlagen, indem sie ein Zertifikat auf Bitcoin oder andere Kryptowährungen aufsetzen. Für andere Finanzinstitute sind Kryptowährungen nur Lug und Trug, weshalb sie sich ganz grundsätzlich verschliessen. Wieder andere sehen es als eine Konkurrenz, die ihnen das Geschäftsmodell streitig machen will. Hier bräuchte es definitiv mehr Gleichschritt.

Vielerorts fehlt auch noch das Verständnis. Krypto wird mit Bitcoin gleichgesetzt und Bitcoin wird als blosses Spekulationsobjekt abgetan.

In dieser Hinsicht ist definitiv noch viel Aufklärungsarbeit zu verrichten. Es gilt, die Menschen über die Gefahren von Hacks und das Risiko zentralisierter Handelsbörsen zu informieren. Zudem müssen letztere besser reguliert werden. Möglichkeiten der sicheren Aufbewahrung von Kryptowährungen sollten breiter diskutiert werden. Auch über das Schicksal eines verlorenen Private-Keys sollten Anleger orientiert werden.

Adriano B. Lucatelli ist Ökonom und Mitgründer sowie CEO des digitalen Vermögensverwalters Descartes Finance Zug und Zürich.


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