Wenn Widersprüche Sinn ergeben

Die Wirtschaft liegt immer noch zu einem guten Teil lahm, Schulden und Arbeitslosenzahlen steigen: Wo man auch hinsieht, herrscht trübe Stimmung. Nur die Finanzmärkte machen munter weiter, als ob nichts gewesen wäre. Wie ist das zu erklären?

Text: Pascal Hügli
Verzerrte Finanzmärkte

Als ob das Coronavirus nicht schon für genug Unsicherheiten sorgen würde, kam in den vergangenen Wochen eine weitere dazu: Die Entwicklung der Finanzmärkte, die sich scheinbar komplett von der Realwirtschaft abgekoppelt hat. Ausdruck der allgemeinen Verwirrung liefert ein Vergleich der Entwicklung der US-Arbeitslosenzahlen und derjenigen des US-Leitbarometers S&P 500. Seit Ausbruch der Coronakrise haben über 39 Millionen Amerikaner ihren Job verloren. Gleichzeitig erholte sich der S&P 500 schnell von seinem zwischenzeitlichen Tief von etwas über 2200 Punkten. Mittlerweile nähert sich der führende Aktienindex fortlaufend bereits wieder der 3000-Punkte-Marke.

Auch wenn die Arbeitslosenzahlen in der kurzen Frist für den Aktienmarkt kaum von Relevanz sind und die Märkte in Erwartung eines baldigen Impfstoffs eine v-förmige Erholung erhoffen, bleiben Fragezeichen. Wie schnell wird der Konsum wieder anziehen? Können schockartig gestoppte globale Wirtschaftsräume mir nichts dir nichts wieder in Gang gebracht werden? Oder werden bleibende Verhaltensänderungen die Erholung zusätzlich erschweren?

Der Fed-Effekt

Optimisten sehen sich durch das aktuelle Verhalten der Finanzmärkte bestätigt, doch paradoxerweise gibt es nicht wenige Pessimisten, die die aktuellen Finanzmarktbewegungen ebenfalls als Bestätigung ihrer These sehen. Dass die Finanzmärkte die bitteren Tatsachen der Realwirtschaft nicht abbilden, beweise, dass sie komplett verzerrt sind.

Auch von prominenter Seite kommt Kritik, etwa von Bloombergs Makrostrategie Mark Cudmore: Märkte, allen voran die wichtigen Anleihenmärkte, hätten heute kaum noch Aussagekraft. Insbesondere in vulgärökonomischen Kreisen wurden die zahlreichen geldpolitischen Interventionen der Zentralbanken als definitives Ende des freien Marktes betrauert.

Ist der Vorwurf gerechtfertigt? Für Luc Filip, Head Portfolio Management bei der Genfer Privatbank SYZ, sind die Verhältnisse an den Märkten derzeit tatsächlich stark verzerrt. Bereits vor der Coronakrise seien die Zinsen tief, teils gar negativ gewesen. Mit der Ankündigung der US-Notenbank, praktisch unlimitiert in den Anleihenmarkt einzusteigen und Wertpapiere mit geringerer Kreditqualität entlang der gesamten Renditekurve zu kaufen, seien Anleihenmärkte noch weniger durch Marktkräfte getrieben. «Sie deshalb für einen wertlosen Indikator zu halten, ist etwas übertrieben», so Filip. Noch hätten die Finanzmärkte nicht ausgedient.

Neues Anlegervertrauen?

Die Ankündigungen der Fed hätten eher wie eine Art Defibrillator gewirkt und den Marktteilnehmern wieder neues Vertrauen eingehaucht. Allein das Versprechen, bei Bedarf Anleihen zu kaufen, habe zu einer Stabilisierung der Märkte geführt. «Die US-Notenbank wird früher oder später tatsächlich kaufen müssen, um ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Es ist aber gut möglich, dass sie auf diese Weise weniger kaufen muss, als wenn sie kein Erwartungsmanagement betrieben hätte», glaubt Anlageberater Filip.

Diese Ahnung scheint auch bei viele Unternehmern und Investoren vorhanden zu sein. Seit die Fed die Käufe von Unternehmensanleihen am 23. März angekündigt hat, wurden in den USA Anleihen mit Investment-Grade Rating für über 575 Milliarden Dollar gekauft. Es waren Rekordzahlen, zu denen sich Firmen über die Zeit von März bis Mai verschuldet haben.

Verzerrt aber funktional

In den Augen der Kritiker sind diese Rekordsummen ein weiterer Beweis für die Dysfunktionalität der Märkte, da sich gerade Krethi und Plethi günstig finanzieren. Darunter viele Unternehmen ohne funktionierendes Geschäftsmodell. Anlageexperte Filip hält dagegen: «Dass es um die Funktionalität der Märkte besser steht als gemeinhin vermutet, zeigt das Beispiel United Airlines». Die Fluglinie musste Schuldverschreibungen, die sie am Finanzmarkt platziert hatte, wieder zurückziehen: Potenzielle Investoren hatten einen zu hohen Zins gefordert.

«Dass einige Firmen nicht in der Lage waren, Anleihen zu einem gewünschten Zinssatz zu emittieren, zeigt, dass die Märkte keineswegs blind sind und noch immer zwischen Unternehmen diskriminieren», so Filip. Kritiker lassen dieses Argument nicht gelten. Zwar werde immer noch zwischen den einzelnen Titeln unterschieden, jedoch auf einer komplett verzerrten Grundlage.

Die drastischen Massnahmen der Zentralbanken – ihre Reaktion auf Corona ist nur das jüngste Kapitel eines langen Buches – hätten die Renditen gegen null gedrückt und somit Risikoerwägungen eliminiert. «Es stimmt natürlich, dass die Zentralbankenpolitik die Investoren in den vergangenen Jahren in immer risikoreichere Anlagen getrieben hat», stimmt Filip zu. In diesem Sinne seien die Notenbanken tatsächlich für die höhere Risikobereitschaft der Anleger verantwortlich – und somit in der Pflicht, die Anleger zu retten, wenn sich die Risiken materialisieren.

Bedeutet dies, dass das Downside Risk beschränkt, während das Upside Risk gegen oben offen ist? «Im Prinzip ja. Traditionelle Risikoanlagen wie beispielsweise Aktien sind immer weniger mit Risiko behaftet. Ihre Bewertungen werden langfristig immer steigen», sagt Filip.

Neuer Tapetenwechsel

Die vergangenen Wochen haben eindrücklich gezeigt, dass wir uns in einem Paradigmenwechsel befinden. Das Wachstum wird kleiner, die Realzinsen werden auf längere Frist niedrig bleiben, die risikofreien Renditen nahe Null verharren. Gleichzeitig dürften die Wertschriftenkurse weiter gegen oben tendieren. Allen voran die Technologie-Aktien werden ihren Siegeszug fortsetzen – nach Corona umso mehr.

Das imposanteste Beispiel für die schnelle Transformation liefert Videkokonferenzanbieter Zoom. Noch vor ein paar Monaten war der Videokonferenz-Anbieter nur Insidern bekannt, heute wird er mit 48,8 Milliarden Dollar werden – und somit mehr als die sieben grössten Fluggesellschaften der Welt zusammen. Auch Transaktionsnetzwerke für elektronische Zahlungen wie Mastercard und Visa dürften profitieren.

Angeführt werden die Techunternehmen weiterhin von den Giganten, den FAAMG. Die sind gemäss Kritikern jedoch ebenfalls stark überbewertet. Filip hält dagegen: «In einer Welt der Nullrenditen müssen Bewertungen fast zwingend hoch sein. Kurs-Gewinn-Verhältnisse oder Aktienrisikoprämien ergeben nicht mehr viel Sinn, wenn die risikofreie Rendite kaum mehr existiert.» Der Anlagespezialist Filip plädiert dafür, das neue Paradigma zu akzeptieren, die Bewertungsmodelle neu auszurichten – und den Fokus auf Cashflow-Analysen legen. «Der Cashflow ist heute die Schlüsselbewertungsmethode. Wer hohe Bargeldbestände und tiefe Schulden hat, kann mehr investieren, was langfristig Mehrwert schafft.» Auch bei der Cashflow-Analyse gibt es momentan übrigens einen klaren Gewinner: Es sind erneut die Techgiganten.


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