«Wir brauchen eine radikale Kursumkehr»

Das heutige Finanzsystem ist dysfunktional und die Banken in ihrer gegenwärtigen Form überflüssig. Das sagt Jonathan McMillan. Deshalb fordert er eine grundlegende Änderung – auch im Gesellschaftsrecht.

Text: Pascal Hügli

Kürzlich ist Ihr Buch «The End of Banking» auch auf Deutsch erschienen. Darin fordern Sie nichts weniger als die Abschaffung der Banken. Das ist eine ziemlich happige Forderung, die man sonst eher aus dem linksradikalen Lager erwarten würde.

In ihrer heutigen Form sind Banken tatsächlich überflüssig und werden nicht mehr länger benötigt. In unserem Buch geht es allerdings nicht darum, Finanzinstitute zu verteufeln. Wir sehen uns vielmehr verpflichtet, gegen die derzeitige Aufmachung und Organisation des Finanzsystems und dessen undurchsichtige Verkabelungen im Hintergrund anzuschreiben. Unser Finanzsystem ist völlig ausser Kontrolle geraten – deshalb braucht es eine radikale Kursumkehr.

Woran krankt es?

Das fundamentale Problem sind die systemischen Risiken. Diverse Finanzinstitute sind heute durch ihre Einbindung in die Verkabelung «Too Big to Fail», im Falle von Fehlverhalten und Misserfolg können sie zu einem Kurzschluss im Backend führen. Das hat verheerende Auswirkungen auf die Ökonomie, wie wir 2008 gesehen haben.

Was hat sich geändert?

Neu ist, dass die systemischen Risiken überall auftreten können, sie sind nicht mehr an einzelne Institutionen gebunden. Es ist wichtig zu sehen, dass Banken seit jeher eine zentrale Rolle im Finanzsystem einnehmen. Ein Zusammenbruch mehrerer Banken hatte schon immer katastrophale Auswirkungen auf die Ökonomie. So war auch die Grosse Depression der 1930er-Jahre Folge einer Bankenpanik.

Weshalb kommt Banken eine derart zentrale Funktion zu?

Banken betreiben ein inhärent fragiles Geschäftsmodell. Sie sind das zentrale Bindeglied zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern. Banken brauchte es, um viele kleine und kurzfristige Spareinlagen in grosse Kredite mit langen Laufzeiten zu bündeln. So war es möglich, Fabriken oder Infrastrukturprojekte zu finanzieren, ohne dass Kleinanleger während dieser Zeit auf Liquidität verzichten mussten. Ergänzend wurden deshalb Sicherungsmassnahmen eingeführt: die Zentralbank als «Lender of last Resort» oder die Einlageversicherung, welche eine Deckung der Depositen der Einleger bis zu einem gewissen Grad vorsieht. Auf diese Weise wurde versucht, die Fragilität des Bankengeschäfts in den Griff zu kriegen.

Mit Erfolg?

In gewisser Weise, ja. Zu Zeiten des traditionellen Bankenwesens konnten so Paniken verhindert werden. Die Kehrseite dieser Sicherungsmassnahmen ist allerdings, dass sie das Moral-Hazard-Problem verstärken: Die staatlichen Garantien verleiten Banken dazu, vermehrt grössere Risiken einzugehen. Das wussten natürlich auch die Regulatoren, weshalb sie die Garantien mit strengen Regeln begleiteten.

Und das funktionierte?

Für eine gewisse Zeit hat dieser Zuckerbrot-und-Peitsche-Ansatz mit Garantien und Regeln ganz gut funktioniert. Die digitale Revolution war dann aber ein Game Changer.

Inwiefern?

Vor dem Computerzeitalter musste jede Finanztransaktion per Papier mühselig niedergeschrieben und telefonisch bestätigt werden. Per Post wurden Kopien verschickt, um von den involvierten Parteien archiviert zu werden. Die Organisationskomplexität und die Transaktionskosten waren enorm. Seit Beginn der digitalen Revolution haben sich diese beiden Merkmale massiv verringert. Das führte dazu, dass sich das Bankengeschäft immer stärker von der Bankbilanz loslöste, denn damit konnten die lästigen Regulierungen umgangen werden. Es entstand ein gewaltiges Schattenbankensystem.

Weshalb ist dieses Schattenbankensystem nicht zu regulieren?

Im Industriezeitalter konnte der Regulator noch die einzelne Institution Bank regulieren. Er musste nur zur Bank fahren und die Bücher anschauen, um zu überprüfen, ob Regulierungen eingehalten wurden oder nicht. Heute hat sich aber das Bankenwesen von der Bilanz der traditionellen Bank ins ganze System verlagert. Dort sind die Bilanzen nun so verschachtelt und die Finanzinstitute so wendig, dass es für den Regulator schlicht unmöglich ist, den Überblick zu behalten, geschweige denn effektiv zu regulieren. Das Schattenbankensystem gleicht einem Whac-A-MoleGame. Schlägt man einen der Maulwürfe zurück, springt er an anderer Stelle schon wieder auf.

Die Technologie hat das Finanzsystem zwar krank werden lassen. Kann sie es auch wieder heilen?

Das Aufkommen der Fintech-Unternehmen hat gezeigt, dass unser Finanzsystem tatsächlich dezentral organisiert werden könnte und wir die grossen Banken in der Mitte des Systems nicht mehr brauchen. Stattdessen können die einzelnen Personen und Firmen gleich selber miteinander agieren, das Stichwort lautet «Peer-to-Peer».

Damit wären wir wieder am Anfang: Banken braucht es nicht mehr.

Genau. Wer heute ein Ökonomie-Lehrbuch in die Hand nimmt, um nachzuschlagen, welche Funktionen Banken haben, der kann getrost schlussfolgern: Alles, was Banken machen, kann heute mittels Technologie ohne das fragile Bankengeschäftsmodell umgesetzt werden.

Wie kommt es, dass Banken trotzdem immer noch allgegenwärtig sind?

Viele Fintech-Enthusiasten dachten: Wenn es die Banken technologisch nicht mehr benötigt, werden sie ohnehin verschwinden. Wie wir gesehen haben, war diese Annahme falsch. Viel eher wurden die Fintech-Startups von den Banken einverleibt. Die bittere Ironie dabei: Heute sind viele ehemalige Fintech-Unternehmen ebenfalls bereits Teil des Schattenbankensystems.

Was müsste geschehen, um das Primat der Banken zu brechen?

Es braucht eine grundlegende Anpassung unseres Gesellschaftsrechts. Weil die Definition der Solvenz von juristischen Personen im Gesellschaftsrecht für das digitale Zeitalter nicht mehr genügt, kann jede Bank alleine oder im Verbund mit anderen über das Schattenbankensystem systemische Risiken schaffen und die Gesellschaft erpressen. Deshalb braucht es eine neue Solvenzregel.

Und diese lautet?

«Der Gesamtwert der Realvermögen einer Firma muss mindestens dem Wert der Verbindlichkeiten in einer Worst-Case-Finanzlage entsprechen». Am wichtigsten ist: Die systemische Solvenzregel ist nur eine Anpassung bestehender Rechnungslegungskonzepte. Genauer: des Konzeptes der technischen Solvenz. Heute gilt ein Unternehmen als technisch solvent, wenn seine Vermögenswerte grösser als seine Verbindlichkeiten sind. Die systemische Solvenz nimmt eine strengere Sichtweise ein. Hier zählen nur reale Vermögenswerte als Schutz gegen eine Insolvenz, Finanzanlagen werden nicht mitgezählt. Dies gewährleistet einen Sicherheitspuffer, der finanzielle Kettenreaktionen verhindert.

Hinter Jonathan McMillan stehen zwei Schweizer Ökonomen: Der NZZ-Journalist Jürg Müller und ein Schweizer Banker.


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